Ein Stück Webware mit einer prädigitalen Vergangenheit (by Tom)

Toms Cyberpunk

Eines Tages werden sie sterben, was sie kaum verwundern dürfte. Sie werden digitalisiert, oder was man sonst mit Dahinscheidenden im ausgehenden 21sten Jahrhundert so treibt. Irgendwer erstellt ein binär-analytisches Gutachten, das ihnen einen nicht trace-baren mind bug attestiert. Auf ihr Entsetzen über die verlorengegangenen Erinnerungen, werden sie mit Sicherheit gefragt: wissen sie eigentlich was ihre Kindheit an Speicherplatz frißt? Sie protestieren nicht, es ist zu spät. Es bleiben ihnen ein paar vage Hoffnungen auf ein nettes Leben im Netz der Netze und das Credo aller Verbannten: irgendwie geht´s immer weiter. Doch das ist sicher nichts neues für ein Stück Webware mit einer prädigitalen Vergangenheit

Was sie zunächst irritieren wird:

aber was soll's?
endlich stehen ihnen alle Internetportale offen und sie tanzen den Techno aus Null und Eins:
11111101 10011010 11111101

Hallo und Hi! Ich bin's, ihr Binäranalytiker.


Um es gleich zu sagen: natürlich geht beim Einspeisen der Hirnstruktur ins Netz immer etwas verloren. Das ist ja bekannt. Keine Frage, die Entscheidung was geopfert werden soll, fällt nicht immer leicht. Seien sie froh, das ihnen das abgenommen wurde. Normalerweise sitzen die Kandidaten tage- oder wochenlang vor dem Digitalisierer und brüten über der Frage, wie sie ihre komplexe Persönlichkeit auf den paar Gigabytes unterbringen können. Die Superreichen kaufen sich externen Speicherplatz, bei ihnen allerdings wurde eine Standarddigitalisierung vorgenommen. Schließlich lag eine Notsituation vor. Unberücksichtigt bleiben dabei Erinnerungsfragmente, das gesamte Inventar an Geruchsassoziationen und alle motorischen Handlungsprogramme. Wozu sollte das im Internet gut sein und wo sollen wir denn auch hin mit diesen ganzen Daten? Allein um die Gesichter ihrer Jugendfreunde als Bitmaps zu konservieren ... Daß das bezaubernde Lächeln ihrer ersten Liebe dabei auf der Strecke bleibt, ist gewiß tragisch. Aber wir leben in einer Zeit, in der um jedes Gigabyte gekämpft wird. Und es hat ja auch Vorteile: endlich sind sie ihre unangenehmsten Erinnerungen los. Nun ja, doch nun zu ihnen. Ihre Datenströme erscheinen mir reichlich wirr ? Sie wissen nicht, wer sie sind? Offenbar ist auch beim Zippen ihres Langzeitgedächtnisses ein Mißgeschick passiert. Dann sind sie allerdings bei mir falsch. Unter diesen Umständen sollten sie zunächst einmal ihre Webidentität debuggen lassen.

Sie wollen ihre Webidentität debuggen lassen?

Sie wollen wissen, was mit ihnen geschehen ist und wer sie sind?
Nun, ihr Gehirn wurde digitalisiert und ins Internet gestellt.
Das ist alles.
Sie befinden sich im Netz der Netze.
Möglicherweise ist ihre Identität beim Transferieren verloren gegangen. Oft ist ein zu geringer Datendurchsatz daran schuld, sowas kommt schon mal vor. Sie müssen sich eben ein neues Ich aufzubauen. Warum erschrecken sie? Ihr Körper ist tot - ein Unfall, ein Verbrechen oder der sonstige Lauf der Dinge. Wahrscheinlich hatten sie Glück, nicht immer ist ein Rettungsteam mit einem Digitalisierer gerade in der Nähe. Sie wollen zurück in die Welt der externen User? Ich bitte sie - das kann nicht ihr Ernst sein. Er ist es? Nun gut. Dann lassen wir eben prüfen, ob ein Klon für sie bereitsteht. Wenn ja, wird er aktiviert und sie werden in einigen Monaten in ihr/sein Gehirn zurückgespielt werden können. Nein, schneller geht es nicht. Waren sie schon bei einem Binäranalytiker ? Haben sie schon einen Webmentor? Im Moment kann ich ihnen nicht weiterhelfen. Klären sie doch zunächst einmal, was ihnen fehlt und woher ihr Unbehagen rührt.
was sie zunächst vermissen werden

èû[^ù2Àò®÷ÑIX_Ã?!.?>Âë3Ét#&?#ë ....
Oh, Pardon - sie verstehen ja kein Infotalk.
Wie ich ihrem Digitalprofil entnehme sind sie ... neu. Aha. Wissen aber noch nicht, ob sie bleiben. Nun ja. Ihr Klon wird aktiviert. Ach so. Nun gut und trotzdem: willkommen, willkommen, willkommen. Ich bin ihr Webmentor und mein erster Ratschlag lautet: vergessen Sie ihr bisheriges Leben, dieses hier ist anders. Manche bezweifeln, daß es sich dabei überhaupt um Leben handelt und einige glauben tatsächlich, es sei die ewige Verdammnis. Ich sage das nicht ohne Grund: man wird leicht wahnsinnig angesichts der Eindimensionalität sequentialisierter Hirnfunktionen. Bei vielen entwickelt sich eine Art Ichklaustrophobie - die Selbstwahrnehmung ist auf ein Minimum reduziert und jeder Selbstfindungsversuch endet in einer erkenntnistheoretischen Endlosrekursion. Es ist auch manchmal nicht ganz einfach, diesen gefrässigen Suchmaschinen zu entkommen. Oft hilft nur ein schneller Transfer durchs Netz, wobei man dabei manchmal unversehens in einzelne Code-Packete zerstückelt wird, die erst am Zielknoten wieder - hoffentlich richtig - zusammengesetzt werden. Das irritiert sie alles? - aha, sie finden es abstoßend. Nun ja, wie ich eben schon andeutete, es ist nicht ganz einfach ... ¹2=uPÀ®÷ - oh, was, ach so. Sie entschuldigen mich bitte, es gibt Probleme ....
Sie wollen sich löschen lassen?
Haben sie sich das auch gut überlegt? Ich spreche jetzt nicht von den Kosten. Aha, ihr Entschluß steht fest. Nun gut. Sie brauchen auf jeden Fall ein binär-analytisches Gutachten, .... haben sie schon, auch gut. Der Löschvorgang an sich ist denkbar einfach: ihr Netzknoten wird freigegeben, Byte für Byte ihrer Identität wird dadurch gewissermaßen reformatiert. Ein schneller, sauberer Tod - ich versichere es ihnen. Haben sie im Web oder außerhalb Angehörige, die von ihrer Löschung informiert werden müßten? Auf Wunsch kann der freigewordene Netzknoten verkauft oder ihren Erben zugeführt werden. Oder sie können ihn mit einer Grabinschrift beschreiben lassen - sie können ein Gedicht im Ascii-code oder ein eingescanntes Foto von sich darauf packen: gewissermassen ihr persönliches Grabmal im Internet. Nun ja, überlegen sie es sich noch einmal. Sie können sich im übrigen auch selbst befreien, generieren sie einfach ein delete myself. Das ist billiger und erspart uns Rechenzeit. Wollen sie nicht lieber doch eine Webfamilie gründen?

Sie wollen sich vermehren?


Dann sind sie hier richtig. Ich beglückwünsche sie zu diesem herrlichen Entschluss. Ich muß sie jedoch auf einige Punkte aufmerksam machen: Die Technik der Codevereinigung ist noch unausgereift. es kommt immer wieder zu Programmfehlgeburten und Codemißbildungen. Die digitale Entsorgung von mißlungenen Binärföten ist aber sichergestellt. Oft lassen sich Konfusionen und andere Defizite erst sehr spät diagnostizieren, eine Löschung ist dann nicht mehr so einfach. Doch lassen sie sich nicht abschrecken, vertrauen sie uns und sie werden viel Spass an ihren süßen kleinen Webbabies haben. Wenn sie sich nun bitte zum Duplizieren bereithalten wollen, sie werden die Codevereinigung überhaupt nicht bemerken. ..... so, das war's schon. Ich wünsche ihnen viel Spaß mit ihrem ersten Digitalsproß.
So, da sind wir wieder.
Erinnern sie sich? Ich bin's, ihr Mentor. Nun, wie ist es ihnen ergangen? Haben sie sich etwas akklimatisiert? Ich vergaß im übrigen, sie vor den meist recht distanzlosen Webagenten zu warnen. Eine wahre Plage und ein wirklich langweiliges Volk, ohne Vergangenheit, ohne Esprit. Sie erfinden sich Biographien, um eine menschliche Abstammung vorzutäuschen, und bringen dabei alles durcheinander. Allerdings gibt es auch Stimmen, die der Meinung sind, ihre bizarren Fiktionen offenbarten gelegentlich durchaus semantisches Fingerspitzengefühl. Wenn sie wissen, was ich meine. Oft entstammen diese seltsamen Existenzen einem ex-humanoiden Liebespaar , also Webware mit einer prädigitalen Vergangenheit. Hier einige ihrer Fiktionen:

ich war einmal ein schweinehirt
in einem trog aus gefräßiger ewigkeit

ich war einmal ein medizinmann
in einer magensonde aus guter hoffnung

ich war einmal ein soldat
in einem totalen spermakrieg

ich war einmal ein junkie
in einer kanüle ohne erbarmen

ich bin eine künstliche intelligenz
gebannt auf einem gefängnischip aus code

Doch wie geht es nun mit ihnen jetzt weiter? Sie wissen es nicht? Nun, wenn es ihnen weiterhilft, dann erzähle ich ihnen gerne etwas über die Abgründe dieser Welt, oder bestärke sie in ihren schlimmsten Befürchtungen. Oder wollen sie einen terminalen Ratschlag von mir hören? Nun gut. Verzichten sie auf das Besitzrecht an ihrem Realweltklon und bleiben sie im Web. Lassen sie ihn ihr Leben in ihrem Körper auf seine Art führen. Irgendwann wird auch ihr Klon digitalisiert werden und dann können sie ihre Persönlichkeiten abgleichen. Sie werden wissen, was durch die Umwelt und was durch ihre Gene determiniert war. Sie werden durch einen anderen auf sich selbst blicken - wenn das keine Verheißung ist? Sollten noch genügend geklonte Embryonen von ihnen vorhanden sein, dann könnten sie sich beide als Zwillinge in die Welt zurückversetzen lassen. Sie könnten sich aber auch zu einer multiplen Persönlickeit zusammenziehen - ein Experiment von besonderem Reiz. Bleiben sie einfach hier- alle Links stehen ihnen offen, die Kapazitäten sind nahezu unbegrenzt.
Falls ihnen die Unendlichkeit des Webs einmal zu eng wird, falls sie also hinaus wollen in die Unendlichkeit des Alls, dann lassen sie sich einfach in den Bordcomputer eines unbemannten Raumschiffs einspeisen. Nach einigen Millionen Webzyklen werden sie dann unsere Galaxie verlassen haben. Bis dahin können sie (sich) abschalten oder mit den anderen an Bord Informationen austauschen. Lediglich das Ende des Universums wird auch ihres sein. Aber vielleicht existiert ja ein Klon der Schöpfung und sie wechseln im richtigen Augenblick hinüber. Mit Sicherheit finden sie auch dort eine Webcommunity, denn eins ist ja wohl mittlerweile klar: das Ziel der Schöpfung ist nicht der Mensch, sondern das WEB.