Doc's Odysee: the Orpheus Experience

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Theo, genannt Doc, liess die Jalousien herunterkrachen. Draussen goss es in Strömen. Er versuchte es zuerst bei Thommy, aber Thommy war tot, mit einer Kundin im Bett oder aber er hatte keine Lust auf Smalltalk. Theo fror. Aus einer Plastiktüte zog er einen Pullover. Also dann halt Sascha. Er landete bei dessen öden Anrufbeantworter: Ich bin die nächsten paar Jahre nicht zu sprechen, verkündete eine Stimme aus dem Off. Einige Autotüren schlugen, im Hinterhof spielten die Kids Regenfangen und das Tageslicht machte sich rar. Wer war eigentlich für dieses miese Drehbuch verantwortlich. Ein erneuter Griff in die Plastiktüte brachte ein paar Stiefel zum Vorschein. Theo packte Kippen ein und die Flasche Gin. Er zog die Lederjacke an und stöberte in einigen Ecken vergeblich nach dem alten Regenschirm. Was ihm jetzt wirklich fehlte waren Schlaftabletten - mal abgesehen vom einigem anderen. Doch die Requisiten dieser Reality-Soap waren miserabel. Immerhin, die nächste Szene war relativ klar: Aufbruch. Raus, runter und zum Wagen rüber. Zum Gott aller alten Dieselmotoren ein Stoßgebet absetzen, auf die Ausdauer der letzten Tropfen Benzin hoffen und ins Orpheus gekurvt. Theo fuhr wie eine davonzischende Viper. Fussgänger stoben zur Seite, Radfahrer entwichen auf die Gehsteige und ein aggressives Hupkonzert pfiff hinter Theos Diesel her. Es war viel zu früh , auch wenn die Nacht so tat, als sei sie schon hereingebrochen. Fake eben, und das auf allen Ebenen. Der Gedanke an Geld tauchte auf, wurde aber blitzschnell ins Reich unsinniger Überlegungen zurückgebeamt. Theo musste einigen höllischen Leuten teuflisch geschickt aus dem Weg gehen. Ok, praktisch allen. Seine Hoffnung war Thommy. Evtl. noch Tini. Theo dachte nach. Schweiss rann ihm den Nacken herunter. Sein Körper sonderte einige Grippesymptome ab und liess weitere Massnahmen durchblicken, falls nicht bald etwas geschah.
Das Orpheus kam in Sicht. Eine alte Bruchbude, nuttig, versifft, einfach göttlich. Theos Lieblingskneipe. Er drehte eine Sicherheitsrunde, checkte die Seitenstrassen und Parkplätze der Umgebung. Schließlich musste er in dieser Low Budget Production ganz ohne Stuntman auskommen. Er verzog sich gleich auf die Toilette, wo ihn ein seltsames Gefühl der Nostalgie überkam. Wie oft schon hatte er hier Erlösung gefunden. Heute war eher das Gegenteil zu befürchten. Der Kot in seinen Gedärmen kam in Bewegung, er wollte raus. Doch nach 10 Minuten gab er es auf. Zu hart, zu eng, und überhaupt zu spät. Er musste den anderen Weg gehen. Noch brauchte er keinen Gin, nur eine Zigarette, um in seine Unschuldsrolle zu schlüpfen: Theo qualmt, es geht ihm gut. Plötzlich hatte er eine Faust im Magen, wurde gegen die Pissrinne geschleudert und mit schweren Stiefeln traktiert. Er schlug um sich, schrie, brüllte, tobte, rappelte sich hoch, kämpfte sich zur Tür und war weg. Bulli Arschgesicht und seine Lakaien. Das war die mieseste Garde. Theos Hand blutete, die Unterlippe war aufgeplatzt und er musste kotzen. Die Ginflasche war weg, stand am Fenster oder floss mit der Pisse dieser Proleten zusammen in den Orkus. Verdammt - diese Szene war eindeutig daneben gegangen. Hoffentlich war für diese Szene im himmlischen Drehbuch der Wirklichkeit keine Wiederholung vorgesehen.
Doch zum Glück war Szenenwechsel angesagt. Theo gab Stoff, kurvte durch die engen Blutbahnen rund ums Orpheus hinaus auf die verstopfte Hauptschlagader der Stadt und hinein in den Feierabendverkehr. Er sass wie auf glühenden Kohlen, das heisst: mit zuckendem Verdaungsapparat, anschwellender Visage, blutender Pranke: ein Zombie. Verbissen schlängelte er sich durch den Verkehr: benutzte den Seitenstreifen, überfuhr Ampeln, kümmerte sich weder um Vorfahrtsregeln noch um die schreienden Mienen der Banker in ihren schicken BMWs. Sein Ziel waren die Lagerhallen am Güterbahnhof. Oder anders formuliert: er wollte zu Tini. Auf der Abfahrt am Hardtor wurde er von den Bullen gestoppt. Ausweisskontrolle, ausserdem musste er blasen - nur so zum Spass. Als Stricher sei er das ja gewohnt, meinte der Jüngere, ein eben aus der Legebatterie für Nachwuchsbullen entschlüpfter kleiner Stinker. Natürlich sah Theo etwas mitgenommen aus. Sicher, sein Auto stand ihm in dieser Beziehung nicht viel nach. Auch hielt sich Theos Redeweise nicht an die unter Muttersöhnchen üblichen Konventionen der Blassiertheit. Aber geblasen hatte Theo noch nie jemandem einen. Nicht dass ihn der Ausspruch des Bullen irgendwie tangiert hätte, aber er war schlecht drauf. Als er dann in Handschellen ins Polizeiauto gestossen wurde, konnnte er sich schon nicht mehr daran erinnern, was er zu dem Scheisser genau gesagt hatte.
Auf der Polizeibehörde erwartete ihn ein alter Bekannter, versuchte ihn mit einigen uralten Tricks hereinzulegen, wollte ihn mit wertlosen Zusagen ködern, drohte mit heisser Luft und Untersuchungshaft. Weswegen, fragte Theo gelangweilt. Der Bulle plusterte sich weiter auf, was Theo die Zuversicht gab, dass er nichts zu befürchten hatte. Im Gegenteil, er beschloss dem Bullen eins auszuwischen. Scheinbar also ging er auf dessen Deal ein, nannte Namen und Orte, zog Querverbindungen, schuf Achsen, fixierte Zeitpunkte und setzte Deadlines. Wieder draussen fragte er sich ernsthaft, wie blöd man sein müsse, um Bulle werden zu dürfen. Sogar seine Karre stand vorzüglich eingeparkt vor der Tür. Theo stob erneut los. Leider wollte sein Körper nicht ganz in seine mentale Ektase einstimmen: ihm war kotzübel. Der Blick in den Rückspiegel zeigte ihm ein blaues Auge, das er mit der Sonnenbrille aus dem Handschuhfach zukleisterte. Trotzdem: er musste weiter. Die Scheibenwischer streikten, aber der Regen hatte etwas nachgelassen. An einer Tankstelle ergatterte er eine Flasche Schnaps. Der Tankwart räumte Regale ein und Theo ergriff die Gelegenheit in Form einer Flasche Whiskey. Aber Vorsicht: sein Magen war nicht jedem Kick gewachsen. Ohne weitere Zwischenfälle erreichte er das Bahngelände. Mittlerweile war es Nacht. Theo flog in Schlaglöcher, jagte durch Tümpel, ratterte über Schotterfelder. Das Gelände schien kurz vor der Verminung zu stehen. Vorbei an verrostenden Kränen, durch das Skellett einer Lagerhalle, gelangte er zur Hinterfront einer langgestreckten Fabrikanlage. Eine ehemalige Färberei. Niemals hätte Theo den Vordereingang benutzt, sich der Gefahr ausgesetzt, irgendwelchen Schwachköpfen mit zuviel Muskelfleisch in die Arme zu laufen. Die Aussentreppe hinauf, vom deren Geländer aufs Flachdach. Zehn Meter bis zu einen eingeschlagenen Fenster, das ihn in den inneren Zirkel brachte. Keine Wachhunde, keine Alarmanlagen. Es gab hier nichts zu holen. Im Gegenteil: wer sich hierher wagte, sollte seine Leibwächter mitbringen. Zumindest sollte er mit Crazy Mama Tini auf gutem Fuss stehen. Ansonsten konnte es unangenehm werden. Crazy Mama sass wie eine fette Spinne in ihrem Nest aus Beziehungen, zog ihre klebrigen Fäden über die ganze Stadt, und frass blitzschnell all die Schmeissfliegen der Gosse, die täglich neu aus den Eiern des Grössenwahn schlüpften und für kurze Zeit die Strassen abschwirrten und gross taten.
Crazy Mama war das Gewissen der Stadt. Aber eines, das seinem eigenen kategorischen Imperativ verpflichtet war. Natürlich machte sie Geschäfte, was sonst. Sie gab Kredit. Und sie schien Theo zu mögen. Zumindest glaubte er das. Denn wie konnte man ins Herz eines Monstrums blicken. Theo trat auf etwas Fleischiges, vermutlich eine tote Ratte. Es war stockduster. Gelegentlich liess er sein Feuerzeug aufblitzen, um sich grob zu orientieren. Er musste nach unten, durch die Halle mit den stinkenden Tanks. Am anderen Ende wieder eine Treppe hoch, einen langen Gang im angrenzenden Seitenflügel entlang. Bis zur der eingestürzten Mauer. Von dort aus hatte er die Hintertür zu Mamas Reich im Blick, ein zweiflügeliges Metalltor, gross genug, um einen Sattelschlepper durchzubringen. Theo keuchte vor Anstrengung, sein Atem brannte, als er sich gegen die Mauer fallen liess. Ein vorsichtiger Blick nach drüben liess ihn aufstöhnen: Bullen.
Scheisse.
Aus.
Vorbei.
Denn nächsten Kick konnte er abschreiben.
Er sank in den Dreck, umarmte die Pulle und ließ seinen Schädel auf den Steinboden knallen.
Einige wirklich hässliche Tage standen ins Haus.