Der 15. Song oder turning sixty-to-0-nine (60-2-09)

Kapitel 1: B4B dismissed

Es war aus, noch bevor es richtig angefangen hatte. Oder wie Samuel es knapp auf X postete: B4B dismissed.
Er ist echt nett, sagte Sandra zu Undine. Die verdrehte die Augen, schliesslich kannte sie Sandras Todesurteile. Das einzige, was zählte, war Power, Witz und eine Spur Wahnsinn.
Was wird aus der Band? fragte sich Freddy insgeheim.
Alle anderen, zum Beispiel Dux, Sigi und Tini, hatten es so kommen sehn.
Besten Dank, meine Herrschaften, für diese sämigen News! kommentierte Samuel und ließ sie stehen.
Ein melancholischer Drummer, stöhnte Freddy. Er saß im Styx mit Sonja. Wie soll der den Beat bringen?
Welchen Beat?
Na beim nächsten Gig.
Welcher Gig?
Tom, Sandra, Sam und ich - die Band.
Ach soooo.
Ja, ach so. Freddy hatte schon lange keinen Bock mehr, irgendwem irgendetwas zu erklären.
Etwas Klarheit freilich wäre angesagt: das Ende wovon eigentlich?
Tom reagierte auf seine Weise. Mit Cyberpunk: »Ein Stück Webware mit einer prädigitalen Vergangenheit«. Erst hieß der Text: Irgendwie geht's immer weiter. Aber daran glaubte er nun nicht mehr.
Die Idee, einen Song B4B zu nennen, kam von Dux: Mann, wär' das nicht ein geiler Rap? Er stieß mit ausgestreckten Armen die Zeige­finger gegeneinander und wippte leicht in den Hüften.
Ist das die Rappergeste für »Vergiss es?« meinte Freddy.
Dux zuckte mit den Schultern. Nein, Freddylein, sie steht für »Verpiss dich«.

Das Ganze ereignete sich kurz nach dem Abi. Da war B4B gerade mal drei Wochen alt. Und schon vorbei. So plötzlich wie es angefangen hatte. Auf einer Fete von Samuel. Im Abspann der Nacht. Zwischen den Resten von Kartoffelsalat, Crackers und Cola. B4B nannte Freddy anderntags das Pärchen: blond for blond.
Es ging alles mit rechten Dingen zu: kein Alk, kein Ecstacy, kein Gras. Fast sahen sie aus wie Geschwister: die blonde Sandra und der blonde Tom. Zwei Pferdeschwänze in Love, kommentierte Samuel.
Vielleicht waren sie wirklich füreinander geschaffen, wie Tom meinte. Zumindest vorübergehend, lästerte Undine. Sigi, der Ex-Lover von Sandra, fand das gar nicht. Immer wenn Sandra auftrat, verkündete er Zickenalarm. Und den »sensiblen Tommy« mochte er auch nicht: Der hat auch noch sein Tunten-Coming-Out.
Alle anderen fanden's gut. Tom und Sandra händchenhaltend durch die City schlen­dernd, Tom und Sandra beim gemeinsamen Shoppen, Tom und Sandra knutschend im Café.
Sandra ist zu tough für Tommy, wusste Dux und ließ eine neue Geste vom Stapel: »Mann, kapier doch«. Niemand verstand sie.
Sie verdient ihn nicht, meinte Undine und schüttelte ihre rote Mähne.
Mann, sie ist die absolute Powerfrau und er ein unendlicher Langweiler.
Sie ist zu schwierig für ihn.
Ach was, er ist zu anspruchslos.
Ich kenne sie, sie weiß nicht wirklich, was sie will.
Na und er? Er weiß es wirklich gar nicht.
Alle schienen alles über alle zu wissen. Nur nicht, warum es wirklich mit den beiden in die Binsen ging: Sandra verliebte sich in Tini.
Du bist lesbisch? stotterte Tom. Er saß hinterm Schlagzeug. Erst hatten sie Sex gehabt, dann etwas Rap und nun diese Katastrophe.
Ich weiß nicht, sagte sie. Vielleicht bin ich es, vielleicht auch nicht.
Wie, du weißt es nicht? Tom begriff nichts. Wirklich gar nichts.
Sandra zuckte mit den Schultern: Es sieht danach aus.
Und nach was sah das vorhin mit uns beiden aus?
Dann bin ich halt bi, sagte sie.
Aber zuallererst mal lesbisch, oder wie?
Sandra löste das Mikro vom Ständer. Genau Tom, zuallererst lesbisch.
Tom drosch auf das Schlagzeug ein.
Sandra packte ihr Mikro sorgsam ins Etui. Ich find's mega cool, sagte sie laut.
Mit einem Schlag hörte das Trommeln auf: Und ich find's mega mies. Tom war fertig, down und stinksauer auf die Eskapaden der Schöpfung. War­um diese Komplikationen, wenn das Leben so einfach und schön sein konnte wie in den letzten drei Wochen?
Es ist übrigens Tini, sagte Sandra. Sie verstaute die Mikrobox in ihrer Tasche und zog den Reißverschluss zu.
Tini? Tom biss sich auf die Lippen. Bis Blut kam, bitter, salzig - so als hätte er schon mal eine Träneninfusion erhalten. Für's spätere Losheulen. Tini? sagte er. Ach, das war also seine Bestimmung: er verhalf Frauen zu ihrem Coming-Out. Hatte er also damals auch Tini die Lust auf Männer ausgetrieben?
Ich geh' mal, sagte Sandra. Sie setzte sich die Baseballmütze auf, zog den Pferdeschwanz hinten durch und steuerte auf die Tür zu.
Klar, sagte er.
Sie zögerte.
Tom?
Was?
Und die Band?
Tom ächzte. Die Band? Er griff nach den Schlagstöcken. Ja sicher, die Band.
Als Sandra die Haustür hinter sich zuzog, begann ein Schlagzeugsolo, das in die Geschichte einging. Zumindest in die der Nachbarschaft. Mit der Ruhe war es für Stunden vorbei und was Tom anbelangte für Tage und Wochen.
Doch was ist schon Zeit? Eine Stunde mutiert blitzschnell zur Ewigkeit und Wochen verpuffen in einem Augenzwinkern. Tom verkroch sich auf seine Bude, verrammelte die Fensterläden und verriegelte die Tür. Was er brauchte, war Dunkelheit.
Nach drei Wochen Sex mit ihm stellte Sandra fest, dass sie lesbisch war.
Einfach cool.
Wie aber stellte man fest, dass man lesbisch war?
Weil es keinen Spaß mehr machte?
Weil der Orgasmus ausblieb?
Wie auch immer. Die Frage war doch: brauchte er Sandra?
Brauchte er überhaupt Frauen?
Wäre es nicht geiler, schwul zu sein?
Aber nein, er konnte sich einfach nicht vorstellen, mit Freddy ins Bett zu gehen.
Unmöglich.
Es war so deprimierend.
Es war so ungerecht.
Er hatte keine Lust mehr. Nicht auf Frauen, nicht auf Realität. Tom griff zur Maus und ab ins Netz. Youtube: die Lieblingsclips, rauf und runter. Er surfte und twitterte und surfte und stieß schließlich auf einen Blog mit Namen »Casvaine«. Der Autor - ein Leidensgenosse von Tom, wie er, ein frisch mumifizierter Gefühlstoter. Er hatte alles zum Thema Schmerz und Wahnsinn gesammelt, hatte Links in alle Verästelungen der Pein gesetzt und saß nun wie eine Spinne im Netz seiner Verzweiflung.
War Wahnsinn vielleicht eine Alternative?
Und wie wurde man möglichst reibungslos wahnsinnig?
Tom wünschte sich einen bizarren Wahn.
So bizarr wie die Liebe.
Casvaine. Das klang in Toms Ohren wie das trotzige Bekenntnis zur Vergeblichkeit.
Casvaine. Das klang in seinen Ohren wie der Name einer verloren gegangenen Liebe.
Casvaine. Das klang in seinen Ohren wie der Titel eines Songs:



Casvaine, Casvaine
nothing to gain
Casvaine, Casvaine
no one to blame
Casvaine, Casvaine
she is insane
Casvaine to blame
insane in vain
to gain Casvaine
to blame in vain
insane Casvaine
Casvaine insane
Casvaine

Casvaine, so beschloss er in dieser Nacht, sollte auch ihre Band heißen. Entweder die anderen akzeptierten es, oder er würde aussteigen. Als Abschiedsgeschenk überließe er ihnen den Song «Blond for Blond (B4B) ist Geschichte». Und um diese Tatsache unmissverständlich klar zu machen, färbte er sich die blonden Haare in das schwärzeste denkbare Schwarz. Und der Rap geht so:



Habt ihr gehört, B4B ist Geschichte
hört mir zu, was ich euch hier berichte
B4B, das waren Sandra und Tom
ja, sie war’n mal ziemlich unter Strom

Uh, blond for blond is broken
the final word has been spoken
Ah, blond for blond is gone
since fabulous Tini came along

habt ihr notiert, nun ist Tini der Star
schon klar, Sandra ist halt wandelbar
B4B, das war nur ein kurzer hype
Tom ist nicht länger Sandras type

habt ihr vernommen
Tom ist auf den Hund gekommen
Sandra ist 'ne Runde weiter
und Tini steigt auf der Karriereleiter

Uh, blond for blond is broken
the final word has been spoken
Ah, blond for blond is gone
since fabulous Tini came along

und das Ende der Geschichte
Tom schreibt Cyberpunk-Gedichte
Sandra greift zum Mikrophon
und Tini singt nun monoton:

goodby old Tom,
you see, I have come
good luck old Tom,
many greetings to your mom.

Während Tom im Universum des Schmerzes trieb, genoss Sandra ihre Power und ihren neuen Lover: Tini. Kur­ze, schwarze Haare, tiefe, schwarze Augen und eine japanische Großmutter. Erotisch und egozentrisch. Das Selbstbewusstsein der beiden wuchs stündlich. Hand in Hand, wie Sandra zuvor mit Tom, schlenderten sie durch die Stadt, gingen shoppen, saßen knut­schend im Café.
Knutschend im Café? Sigi traute seinen Macho-Augen nicht. Ver­dutzt blieb er stehen und starrte hin, bis er schwarz wurde. Er machte sich kun­dig - über Lesben und Schwule. Als er Sandra das nächste Mal traf, fragte er so beiläufig wie möglich: Butch oder Femme?
Switcher, entgegnete diese mit größter Herablassung. Dann sagte sie noch: Lass mich einfach nur queer sein, von dir verlangt das ja keiner.
Sigi verschwand recht bald aus dem Dunstkreis um Tom, Sandra und die anderen.

Kapitel 2: Ein Refugium für die Band

Szenenwechsel- Sturz in eine andere Welt. Mit Wolken aus Zuckerwatte in einem Himmel aus hellblauen Sirup. Sie steckten in einem Acker aus Vollmilchschokolade mit Krokant. Links hinten war dieser Wald aus grünen Gummibärchen, oder waren es Nougatstangen mit Waldmeisterpudding?
Das da oben ist es, sagte Tom jedenfalls. Aber Freddy sah in die Luft und verkündete der Zuckerwattewolke den nächsten Akkord: H7. Er sah aus wie frisch aus dem Trockner gezogen: wirre Haare, glasige Augen, traumfeuchte Lippen.
Das Problem bei der Sache war: irgend jemand hatte die Welt auf Zeitlupe geschaltet. Ihre Bewegungen versackten. Jeder Schritt kostete Jahre. Am besten, man ließ sich treiben. Alles zerdehnte sich, zerfloss und verdampfte. Daran konnte man so gut wie nichts ändern.
Dann die Attacke, das Laserschwert, das aus dem Nichts kam. Es durchstieß die Zuckerwatte, hieb wild in den Acker und stach glühend auf sie ein.
Das ist die Sonne, versicherte Tom, hob langsam die Hand vor die Augen und sah kurz ins glühende Herz der Honigscheibe.
Freddy sonderte den nächsten Akkord ab: A7.
Damit war vorläufig alles gesagt. Freddy summte, Tom suchte nach Me­taphern und so zerrannen ihnen einige Stunden zwischen den Schritten. Schließlich erreichten sie etwas, das Tom als Schatten der Rettung bezeichnete. Freddy identifizierte es verärgert als Baum - die Realität mischte sich schon wieder in seine Wahrnehmung. Als er eine Stunde später im Gras unter dem Baum erwachte, sagte er: E.
Tom lag auf dem Rücken: Dur oder Moll?
Dur.
Tom drehte sich auf die Seite, blickte den Hang hinunter, zum Wald hinüber, nach oben in den strahlend blauen Himmel und über die Schulter zum Gehöft hinauf. H7, A7, E, überlegte er. What you want is what you get!
Freddy folgte seinem Blick. Das ist es?
Ja.
Stammt wohl noch aus dem Dreißigjährigen Krieg?
Das ist die Rückseite, erwiderte Tom, so als erkläre dies den schlechten Zustand des Gemäuers.
Warum sind wir eigentlich nicht bis zum Gehöft hochgefahren?
Du kannst blöd fragen.
Wieso blöd fragen?
Nach dem Joint wären wir keine fünf Meter weit gekommen.
War das meine Idee mit dem Joint?
Nein, erwiderte Tom. Aber dein Stoff.
Ist das jetzt ein Verbrechen, guten Stoff zu haben?
Nein, sagte Tom gedehnt. Aber etwas weniger ist manchmal mehr.
Ach ja, ein guter Joint halt, sagte Freddy und ergänzte: Asus4. Aber das passte nicht. Vielleicht G7? Und dann C, gefolgt von H7 und E.
What you get is what you need, intonierte Tom.
Perfekt, sagte Freddy und erhob sich. Der nächste Song war praktisch fertig. Jetzt brauch­ten sie nur noch den Sommer zum Proben und ihrem Auftritt im Styx stand nichts mehr im Weg. Freddy sah schon das Plakat: Freddy 'n Band live im Styx. Absolut mega. Und alle würden toben. Insbesondere die Girls ...
Ok, die Gruppe hieß nicht »Freddy 'n Band«. Sie hatte überhaupt noch keinen Namen. Obwohl sie schon ein Jahr zusammen probten. Aber gute Namen lagen nicht auf der Straße herum. Und alle waren die endlosen Diskussionen leid. Niemand wollte sich länger mit Vorschlägen wie »Kernseife«, »Strychnin« oder »Affengeil« auseinandersetzen. Auch Toms düstere Labels wie »The NoNames« oder »Fehlanzeige« waren nicht mehrheitsfähig. Freddies »The Mnemotonics« klang wie ein Drink und auch »Chocolate Freaks and Nuggets« hätte besser zu einer McDonalds-Werbekampagne gepasst denn als Gruppenname durchzugehen.
Ausserdem mussten sie vorher noch ein bisschen üben. Genaugenommen mussten sie ganz viel üben.
Gut, dass der Abi-Stress vorbei war. Gut, dass sie etwas Kohle in den Taschen hatten und gut, dass es Grosstante Hermine gegeben hatte. Gut auch, dass sich Sandra, die Powerfrau, zu ihrer Leadsängerin berufen fühlte.
Hey Jungs, rief sie eines Nachmittags, lasst es uns einfach tun.
Wie tun? staunte Freddy, drei Männer und eine Frau?
Lasst uns, rief sie unbeirrt, unser Ding durchziehen.
Gern, sagte Freddy, ich dreh' gleich eins.
Lasst uns berühmt werden, rief sie. Und zwar furchtbar schnell.
Nichts lieber als das. Aber die Frage war doch, wie?
Wir müssen proben bis zum Abdrehen, sagte sie. Proben, Proben, Proben.
Proben? warf Freddy ein. Was tun wir denn die letzten Wochen in diesem lausigen Kellerloch anders?
Ich meine richtig proben, sagte Sandra. Nicht alle zwei Wochen mal ein bisschen rumklimpern.
Tja, meinte Samuel. Dann könne man aber nicht in der Stadt bleiben.
Nicht in der Stadt? Freddy traute seinen Ohren nicht. Welche Alternativen gab es denn zur Stadt. Eine andere Galaxie? Ein Paralleluniversum?
Sam hat recht, sagte Sandra. Wir müssen in Quarantäne. Keine Ablenkung außer den Proben, kein Stoff außer selbst produziertem Sound.
Gmaj7, Am, H7. Freddy ließ seine Les Pauls sprechen. Es klang schrecklich. Genauso schrecklich wie Sams Vorschlag. Es gab für Freddy nichts Unangesagteres als das Exil, die Verbannung aus der City, den Rausschmiss aus der Szene, den Verlust seiner Clubs. Was habt ihr vor? stöhnte er.
Wir könnten uns ans Meer verziehen, meinte Sam.
Genau, rief Freddy: Sonne, Sand, Spießer. Und mittendrin die Band. Wie lange sollen wir das aushalten? Etwa den ganzen Sommer? Wo willst du die Kohle herkriegen? Wo willst du wohnen?
Wir campen, meinte Sam.
Freddy heulte auf. Nicht mit mir. Nicht mit Euch. Zudem müsse man das Equipment unterbringen. Und wenn wir auf dem Zeltplatz stundenlang den gleichen Song bringen, werden wir uns nicht nur Freunde machen.
Zu was brauchen wir Freunde, wir haben ja uns. Natürlich war das kein Argument, das wusste auch Samuel.
Die vier saßen im Keller von Toms Elternhaus. Die Verstärker surrten noch, waren praktisch noch heiser vom Proben. Tom saß hinter dem Schlagzeug und tätschelte gelegentlich ein Bec­ken. Samuel ließ seinen Bass von Zeit zu Zeit aufbrummen. Und immer dann, wenn Freddy die Worte ausgingen, sprach seine Les Pauls für ihn. Sandra hielt ihr hypersensibles Mikro in der Hand und sagte: Darf ich euch daran erinnern, dass wir hier raus müssen.
Niemand stellte diese niederschmetternde Tatsache in Frage. Toms Eltern hatten ge­nug vom tagtäglichen Krach. Die Geduld der Nachbarn war schon seit langem er­schöpft.
Warum nicht irgendwo in der Stadt einen Raum mieten? versuchte es Freddy.
Sandras blonder Pferdeschwanz wechselte abrupt die Seite. Das geht vielleicht eine Woche gut und dann kommen die ersten Ausfälle. Plötzlich hat Tom keine Zeit mehr, weil er seinen Cyberpunk fertigbringen muss. Oder unser guter Samuel verliebt sich mal wieder in eine zwanzig Jahre ältere Göttin und ist tagelang verschwunden. Und bei dir, lieber Freddy, brau­che ich wohl gar nicht erst anfangen aufzuzählen. Wie war das: Sex and Drugs and Rock'n Roll?
Niemand protestierte, alle fühlten sich bestens getroffen. Aber war das ein Wunder? Sandra wollte schließlich Psychologie studieren.
Also was tun?
Sandra fasste zusammen. Wir brauchen einen Ort, wo wir ein halbes Jahr leben kön­nen, unter uns sind, Krach machen dürfen und wo es weit und breit keine Ablenkung gibt.
Samuel war sich sicher: das gibt es nicht.
Freddy meinte: zum Glück.
Und Tom sagte: Du meinst das Gehöft meiner Grosstante Hermine.

Dort standen Tom und Freddy an diesem sonnigen Nachmittag und zwar auf der Rückseite. Sie hatten sich durchs hohe Gras gekämpft, waren durchs Gebüsch gebrochen und über einen kleinen Zaun geklettert. Die Rückfront des Gehöfts war mehr oder weniger eingestürzt, man konnte ins Innere der früheren Ställe sehen. Zusammengekrachte Trennwände, Unkraut, Büsche und ein Baum, der sich in die Eingeweide der Ruine hineinfraß. Es stank erbärmlich.
Wenn der Rest nicht besser ist, kläffte Freddy, dann können wir die Sache vergessen.
Kaum schon, drängte Tom, der bereits um die Ecke gebogen war und die Ostfront abschritt. Hier, sagte er und klopfte gegen die Außenmauer, sind die ehemaligen Geräteschuppen: Traktoren, Anhänger, Mähdrescher.
Freddy humpelte um die Ecke. Verdammt, sagte er. Ich hab mir das Bein verstaucht. Er blieb stehen und schaute Tom hinterher, der etwa fünfzehn Meter voraus war und fast das Ende der Mauerfront erreicht hatte. Dann war er um die Ecke. Freddy humpelte hinterher. Als auch er um die Ecke bog, sah er den Zu­fahrtsweg, einen staubigen Feldweg, der in einer Schleife hinter dem nächsten Hügel verschwand. Die Vorderfront war gut erhalten, nur das Eingangstor hing wenig vertrauenserweckend an rostigen Angeln. Immerhin, Toms alter VW-Bus würde durch­passen. Ist ja klar, meinte dieser. Die Traktoren mit dem ganzen Heu mussten ja auch durch.
Beim Anblick des Hofes kam von Freddy nur: E7, A7, D7, G.
Stimmt, es war schräg. Schräg genug, um auch Freddy zu gefallen. Ein bizarrer alter Baum in der Mitte des Hofes, ein wahrscheinlich noch aus dem Mittelalter stammender Brunnen, an dem die Grufties in der Band sicher ihre helle - Pardon - dunkle Freude haben würden. Dann eine breitgetretene Freitreppe mit beidseitigem Treppenaufgang und doppel­seitiger, angekohlter Holztür. Verdorrtes Gras und widerspenstiges Buschwerk überwucherte den Hof.
Grell, sagte Freddy. Irgendwie abgefahren. Er drehte sich in alle Richtungen. Aber eins ist sicher, sagte er dann und schnalzte mit der Zunge: das wird ein echt geiler Gig hier, ein chillender Rap, wenn Du so willst. Ich sag' dir nur eins: let's rap the chill:



hey alter, komm chill mit mir
wir chillen right here
wir chill'n am Pool
H2O ist so cool

wir chilln auch den Grill
was der Grill gar nicht will
dann chillen wir den rap
und das klingt echt fett

wir chillen euch alle
ihr seid in der Falle
wir chillen euch tender
egal welches Gender

wir chillen die Welt
weil uns chillen gefällt
wir chillen den Mond
weil nur chillen sich lohnt

wir chillen die Sonne
denn chillen ist Wonne
dann chilln wir die Sterne
die chillen mit von ferne

dann chilln wir das All
es hat keine Wahl
denn chillen is nice
it's like paradise

's isch a gäbiger chill
the chill on the hill
the chill in the valley
we chill through each alley

's isch a gäbiger chill
it's a fantastic thrill
it's a really good game
'rap the chill' is its name


"gäbig" (Schweizerdeutsch): (irgendwie) passend

Kapitel 3: Task Force »GTH2«

Zurück in die Zivilisation. Das erste Task Force Treffen »GTH2« fand im Keller von Toms Eltern statt, ihrem Noch-Übungsraum. GTH2 stand für GrossTante Hermines Hof und war Sandras Idee. Damit hatte sie sich gegen den Vorschlag von Tom durchgesetzt, der »The Band Grange« favorisierte. Tom lenkte jedoch ein, jeder Streit zwischen ihnen würde schnell in tödliche Dimensionen abdriften. Freddy berichtete: Das nächste Kaff ist fünf Kilometer entfernt, es gibt kein Wasser und, wenn ich das sagen darf, auch keinen Strom. Dabei blickte er zu Tom. Aber sonst, fügte er hinzu, ist es megageil.
Tom zuckte mit den Achseln. Ich habe nie behauptet, es sei ein Neubau.
Aber etwas Strom muss schon sein, meinte Sam. Niemand konnte sich ihn längere Zeit ohne seinen IPod vorstellen. Er hing stundenlang an dem Ding wie am Tropf.
Drinnen ist es in etwa so gemütlich wie hier. Freddy zeigte vage in den Raum: schäbige Wände, Regale mit Plunder und ein vergittertes Fenster oben in der Wand.
Das lässt sich ja sicher etwas renovieren, meinte Sandra. Nur auf Strom und Wasser können wir kaum verzichten.
Es gibt einen Brunnen, meinte Tom.
Das ist nicht dein Ernst? Freddy schüttelte sich. Ich brauche chloriertes Wasser, sonst kriege ich Haarausfall und Karies.
Klar, Freddy, das wäre tragisch. Tom grinste.
Was ist mit einem Stromgenerator? Samuel drehte am IPod herum.
Klasse, rief Sandra. Der Motorenlärm ist sicher sehr inspirierend. Aber wir sind halt leider keine Heavy Metal Band. Wollten wir nicht üben, meditieren und gute Songs schreiben?
Von meditieren war nicht die Rede, murmelte Freddy und schlug ein Gmaj7 an.
Das Gehöft gehörte meiner Grosstante Hermine, begann Tom.
... schon bekannt
... wissen wir
... und weiter?
Der Backgroundchor gelangweilter Stimmen erstarb.
GT Hermine hat bis zuletzt auf ihrem Hof gelebt, sagte Tom. Es muss also auch Stromleitungen geben. Die Frage ist doch nur, ob man das Elektrizitätswerk dazu bewegen kann, den Safthahn wieder aufzudrehen.
Notfalls zapfen wir eine Überlandleitung an, fand Freddy.
Klar, Freddy, sagte Sam. Vielleicht gibt es ja auch ein Atomkraftwerk in der Nähe. Dann holen wir uns den Strom eimerweise dort ab.
Wie weiter? beendete Sandra das Geplänkel.
Ich werde Theo fragen, sagte Tom.
Theo? sagte Freddy. Ist das der Verwalter eurer weitläufigen Besitzungen?
Mein Grossonkel. Der Erbe von GT Hermine.
Freddy stellte sich einen dickbäuchigen Bauern vor, der in Gummistiefeln und mit einer Milchkanne bewaffnet hinter Kühen herjagte.
Nicht ganz, meinte Tom. Aber ein Freak ist er schon.
Was ist mit Verpflegung? meinte Sam.
Verpflegung bekommen wir im Dorf, sagte Tom.
Oder wir packen den VW-Bus mit Dosen voll: Ravioli, Fischkonserven, Fertigge­richte, H-Milch, Mineralwasser, ein Paar Kisten Bier. Und wenn das alle ist, dann fahren wir in die nächste Stadt, kaufen kräftig ein, machen einen klitzekleinen Abste­cher in ein paar nette Kneipen und kehren wieder in unser Landschulheim zurück, wo wir uns für weitere zwei Wo­chen eingraben. Freddies Augen glänzten. Am liebsten wäre er gleich los­gezogen, um einzukaufen und in der nächsten Szenenkneipe abzuhängen.
Oder wir legen ein Gärtchen an: Bohnen und Möhren. Freddy musste den Joint, den er ge­rade drehte, weglegen, - ein Lachkrampf. Doch dann ging ihm die Genialität seines eigenen Vorschlags so richtig auf und er sagte: Genau. Nur dass wir kein Gemüse, sondern Gras anbauen.
Sonst noch was, knurrte Sandra. Wir haben keine Zeit für solchen Quatsch.
Ja, ja, meinte Freddy. War ja nur so eine Idee. Er beendete den Tütenbau, ließ es knistern und schaute auf: Aber Selbstversorgung ist gut.
Genau, meinte Tom. Dazu brauchen wir aber eine funktionstüchtige Küche. Und falls wir dort nicht auch schlafen wollen, müssen wir renovieren. Und das bedeutet Arbeit.
Arbeit? sagte Freddy. Nie gehört.
Dreck rausschaufeln, Fenster abdichten, Türen ausbessern. Tom versetzte der Basstrommel einige Tritte.
Und zur Aufrechterhaltung der Kreativität sollte jeder seine Rückzugsmöglichkeit bekommen, philosophierte Samuel.
Wir setzen dir den IPod aus Hirn, dann ist schon einer weniger.
Sehr witzig, fand Samuel und nahm den Joint entgegen.
Tom sagte: Wenn das Wetter mitspielt, können wir alles draußen tun: essen, proben, schlafen.
Freddy stöhnte: Und wie lange soll dieses Pfadfinderidyll dauern?
Bis unser Programm steht, meinte Sandra. Bis wir die fehlenden Songs geschrieben haben. Bis wir perfekt sind.
Ach so, sagte Freddy. Du willst nur ein paar Tage bleiben.
Das wird eher Jahre dauern, meinte Sam.
Ein Sommer reicht, beharrte Sandra.
Ein ganzer Sommer, echote Freddy. Und nur wir vier. Das halt ich nicht aus.
»Chicks for free« gibt's hinterher, lästerte Sam.
Nein, nein, nein! rief Freddy. Jeder von uns ist als Individuum ja genial. Aber als WG sind wir effektiv ein Fiasko.
Du meinst als Landkommune, korrigierte Samuel.
Genau - ein Trupp von Neohippies, ausgerüstet mit allem technischen Schnickschnack der Neuzeit: IPhone, IPod, IMac, Spielkonsolen und 'nen Highway ins WWW. Internet-Junkies und Youtuber unter sich. Und mit einem nicht unerheblichen Musikequipment.
Das allerdings fand Samuel mittlerweile mega out.
Doch die Frage nach dem Equipment hatte noch andere Dimensionen.
Brauchen sie eigentlich auch einen Kühlschrank, eine Waschmaschine und einen Geschirrspüler? Hatten sie einen Herd und wenn ja, wer konnte kochen? Gab es Betten, hatten sie Roste und Matratzen. Mußten sie Wochen im Schlafsack im Freien kampieren? Konnte man duschen, gab es Toiletten?
Das Ganze entwickelte sich zum logistischen Alptraum.
Unmöglich das alleine zu bewältigen.
Nach heftigen Diskussionen und einigen wirklich weitverzweigten Assoziationen kamen sie zu der Erkenntnis: Eine Crew musste her.



Songtitel: Weed

weed weed
do you think it's sweet sweet
I feel nice on my feet feet
I surely need to eat eat
whatever you could feed feed

[chorus]
just turn a funny leaf
find the laughter underneath
we hover all the way down
and take the crown of a clown


weed weed
could you please just beat beat
all the drums we need need
but slow down your speed speed
cause I just feel so neat neat

weed weed
its a gaze of heat heat
like a dusty sheet sheet
sail in a canabic fleet fleet
my mind will start to breed breed

Eine Crew musste also her. Nun ja. Warum nicht? Es war ja auch nicht weiter schwierig, kids zu finden, die ihnen passten, Zeit, Lust und Geld hatten und auch noch arbeiten wollten. 
Bizarre Illusion, meinte Sam. 
Warum denn nicht? sagte Freddy sarkastisch. Wer will nicht mal für einige Monate raus aus der Stadt und rein in die Stille. Keine Kneipen, kein lästiges Kino, keine Feten, keine Einladungen zu langweiligen Parties, nichts, was ablenkt? Nur die würzige Luft und das Grün der Landschaft. 
Danke Freddy, sagte Sandra. Aber im Ernst: wir müssen ihnen die Sache halt ein bisschen schmackhaft machen. Feten können wir da draußen auch aufziehen. Ich weiß gar nicht, Freddy, was du gegen würzige Luft hast. Das Zeug, das du rauchst, riecht auch nicht viel anders.
Wirkt aber besser, behauptete Freddy.
Irgendwelche Vorschläge? fragte Sandra.
Paul Plot, sagte Freddy. 
Sandra kräuselte die Stirn: Dein Kiffkumpel.
Ja, mein Kiffkumpel. Paul ist immer zu allem bereit, außer vielleicht zur Arbeit. Außerdem ist er Kellner und weitgehend anspruchslos. Es klang wie ein Beitrag zum Thema Tierhaltung.
Warum nicht, sagte Sam. 
Freddy strahlte: Er sei leicht zu ködern: Freie Verpflegung. Gelegentlich ein Joint. That's it.
Sandra setzte Tini auf die Liste und versetzte Tom damit einen Schlag in die Magengrube. Doch Tom krümmte sich lautlos und alle anderen hielten sich raus. Also Tini.
Was ist mit Igor? meinte Freddy. 
Nein, schrien alle auf. Nicht dieser Dauerquatscher. Freddy zog seinen Vorschlag zurück. Dann machen wir halt eine Casting-Show, schlug er vor. 
Das klang gut. Unklar war nur, welches Profil die Leute haben sollten? 
Die Kriterien sind einfach, sagte Sam.
Welche Bands magst du?
Welche Brands hasst du?
Kannst du einen Nagel einschlagen?
Mein Gott, sind wir elitär, rief Sam in gespielter Verzweiflung.
Ja, meinte Freddy, zum Glück.
Wir brauchen Universalgenies, sagte Tom. 
Dux, kam es gleich zweimal. Der kann quasi alles: bohren, hämmern, sägen, Auto re­parieren. Rechner installieren und notfalls auch Haare schneiden.
Das stimmte. Daddy Dux, wie er wegen seiner Rappergesten genannt wurde, war ein Technikfreak. Vom Auto bis zur Videokamera beherrschte er alles. Außer­dem war sein Alter Bauunternehmer. Geräte, Lastwagen und Material - das ganze Equipment einer erfolgreichen Einrichtungsshow war damit verfügbar.
Und ihr glaubt, meinte Freddy, dass Daddy Dux seine nächtlichen Streifzüge durch die Rapperclubs einfach aufgibt und sich freiwillig dem ländlichen Vögelgezwischer aussetzt?
Kommt schon, sagte Tom. Wir widmen Daddy ganz einfach einen Rap.
Ok, sagte Sam, das könnte funktionieren.   
Was ist mit Frauen? fragte Freddy. 
Was soll damit sein? zischte Sandra.
Ich mein' ja nur, antwortete Freddy. Damit Daddy sich wohl fühlt. 
Spinnst du jetzt? knurrte sie. 
Geld? versuchte es Tom.
Quatsch, sagte Freddy. Kohle hat der genug.
Daddy Dux wurde ihnen immer wichtiger, je unerreichbarer er schien. 
Der nächste Vorschlag kam von Sam: wie wär's mit Undine.
Undine? unkte Sandra. Diese Zicke?
Sie ist nicht zickiger als du, konterte Sam.
Was soll das? meinte Tom. So kommen wir nicht weiter.
Womit er völlig recht hatte. Sandra verstummte, Sam hielt sich zurück und Undine wurde Crewmitglied. Freilich ohne es auch nur zu ahnen. 
Auf ihrer Crewliste standen nun: Tini, Paul, Undine und Daddy Dux.
Wer übernimmt denn nun Daddy?
Niemand fühlte sich berufen. Die weiteren Diskussionen verliefen in Unschlüssigkeit und kleinen Streitereien. 
Danach herrschte Funkstille. Sie ging einen Tag. Sie ging zwei Tage. Sie ging drei Tage. Dann schickte Tom eine Nachricht an alle. Titel: Wanted - Daddy Dux. Wir brauchen ihn, am besten lebend.
Samuel las es, sah plötzlich einen Western ablaufen, ein Duell in der Mittagshitze, Staub und Totenstille und plötzlich ein Schuss und jemand rief: Klappe, die fünfte. 
Uff, genau das war es!
Sam ging sofort auf reply und schrieb: Ich weiß, wie wir sie alle kriegen. Alle. Jeden. Garantiert. 
Ein Sturm setzte ein, die Handys liefen heiß, der E-Mail-Verkehr stand vor dem Kollaps und praktisch das ganze Internet schrie: Samuel melde dich sofort! 
Doch Sam hatte alles Mobile abgeschaltet, ließ sich nicht anskypen, anzoomen, anpushen, er reagierte nicht auf messages, nicht auf E-Mails und spielte Mr. Offline.
Er ist mit seinem IPod in den Untergrund gegangen, vermutete Freddy.
Ein finaler Sturz mit dem Skateboard, sagte Tini.
Ach was, meinte Tom. Er sonnt sich einfach mal wieder in seiner Genialität.
Ja, stöhnten die anderen. Der alte Streber.
Und dann kam ganz traditionell per E-Mail folgendes Bulletin: 

Leute, wir machen die Crew zum Filmteam. Versteht Ihr? Wir drehen einen Streifen. Dux ist Regisseur, Undine spielt Cutterin, Paul (der Armleuchter) wird Beleuchter. Wir produzieren ein Videoclip: von der Band, dem Hof, den Proben und der Crew. Wir streamen es, wir stellen es auf youtube, posten es auf welcher Plattform die Welt sich auch immer gerade ihren Kickk holt. Das wird mega, das wird geil. Niemand, das garantiere ich Euch, läßt sich diesen Hype entgehen. City kids, wir lieben euch.  




Songtitel: city kids
[verse]
city kids, fooling around in the park
city kids, getting drunk in the dark
city kids, spilling blood in the night
that's the way, city kids feel alright

[chorus]
we love to feel like city kids
we'll never miss good body hits
we love to cry like city kids
we kid and bit and hit
we are fantastic shit

[verse]
city kids, smooking weed all day
city kids, don't even know what they play
city kids, running mad in a mall
that's the way, city kids do it all

[chorus]
we love to feel like city kids
we'll never miss good body hits
we love to cry like city kids
we kid and bit and hit
we are fantastic shit

[verse]
city kids, doing what ever they want
city kids, don't need no money from their aunt
city kids, snack on potato chips just for fun
you know, we're always on the run

Kapitel 4: Headhunting

Nun kam Bewegung in die Sache: die Jagd begann. Die Headhunter gingen in Position, Kopfprämien wurden ausgesetzt, Erfolgsaussichten diskutiert.
Der härteste Brocken ist Daddy Dux. Tom sah Sam an.
Klar, sagte dieser. Daddy bringt locker 80 Kilo auf die Waage.
Das war nicht immer so, meinte Tom. Habt ihr nicht eine gemeinsame Vergangenheit in der Halfpipe.
Ja, sagte Sam, schon. Es ist aber wirklich lange her, dass ich mit Daddy durchs Vert gepusht bin.
Versuch' ihn auf's Flat zu bringen, meinte Tom.
Sam lachte: OK, überredet.
Doch Dux war auf andere Fortbewegungsmittel umgestiegen.
Keine Zeit, quengelte er ins Handy.
Was? Du willst mit mir quatschen? Wozu denn?
Muss das denn sein?
Mann, ich muss mich meiner neuen Karre widmen.
Morgen? Also gut, Mann. Wenn's sein muss.

Freddy hatte sich Paul Plot vorgenommen. Eine an und für sich leichte Aufgabe. Doch Paul Plot hatte sich in Luft aufgelöst.
Weiß nicht, wo er ist, sagte Klaus. Falls du ihn siehst: er braucht sich hier nicht mehr blicken zu lassen. Soll woanders Bier zapfen.
Freddy nickte und versuchte es im Styx.
Mal wieder ein Alkoholexzess, vermutete Sigi und trank sein Bier in einem Zug aus. Ruf ihn doch an.
Ja prima, meinte Freddy. Was glaubst du, was ich seit Tagen versuche.
Hast du es schon in seinem Kellerloch versucht?
In welchem Kellerloch?
Im Greterareal. Zwischen den Müllkontainern und Industrieabfällen.
Klingt gut. Freddy schüttelte sich.
Klingt nach Paul Plot, sagte Sigi und bestellte eine neue Runde.
Sigi war und blieb ein Arschloch. Doch sein Tipp war gut. Ein verkaterter Paul Plot öffnete die Tür, grinste, als er Freddy erkannte und sagte: Was ist denn heute für ein Tag?
Drinnen ein dunkles Loch, mit Blick auf eine alte Fabrik und einem Mobiliar, das aus sämtlichen Sperrmüllsammlungen der letzten Jahrzehnte zusammengestückelt zu sein schien.
Gruss von Klaus. Du sollst dich verpissen.
Danke, sagte Paul und kam mit einem Bier aus der zugemüllten Küche zurück. Freddy war gewiss nicht zimperlich, aber in diesem Desaster aus Dreck und Gestank fühlte selbst er sich nicht wohl.
Was ist denn los, fragte er.
Was soll los sein? meinte Paul und köpfte das Bier.
Du gehst nicht ans Handy, du schmeißt deinen Job, du haust hier in einer Müllkippe und fragst noch, was los sein soll?
Paul setzte sich. So bin ich halt, meinte er und setzte die Flasche an.
Freddy suchte vergeblich nach einer Sitzgelegenheit.
Hast du was zu rauchen?
Freddy nickte.
Setz Dich, meinte Paul und schob einen Stapel Klamotten beiseite.
Freddy ließ sich zaghaft nieder. Nun denn, sagte er. Laß uns die Barrieren der Realität einreißen.
Wie?
Statt einer Antwort hielt er Paul bedeutungsvoll eine Tüte hin. Der ließ ein anerkennendes Schmatzen ertönen, streckte die Hand aus und griff ins Leere.
Freddy hatte den Joint plötzlich zurückgezogen.
Was ist?
Doch Freddy schwieg verzückt. Er war von einem Gedankenblitz getroffen worden.
Mann, sagte er nur. Das ist es.
Krieg' ich nun die Tüte? quengelte Paul.
Freddy triumphierte: Du kriegst nicht nur eine Tüte, du kriegst viele Tüten.
Mir reicht für's erste mal eine.
Freddy lachte. Paul, sagte er, was ist schon ein Joint angesichts der Unendlichkeit.
Unendlichkeit?
Paul, sagte Freddy, lass dir keine grauen Haare wachsen. Ich erklär' dir's. Und Freddy setzte ihm seinen Plan auseinander. Ein genialer Plan.
Cool, sagte Paul. Megacool.
Klar, dass er unter diesen Umständen umgehend Crewmitglied wurde.
Dann widmeten sie sich ganz der Tüte, versanken im Müll von Pauls Bude und lachten sich über ein altes Sandwich tot, das quasi mit schrägem Maul aus einem Unterhemd von Paul hervorgrinste und aussah wie Sandra.

Sicher, sagte Tom zu Sam. Ich krieg' das mit Undine hin.
Klar kriegst du das hin.
Sag' ich doch.
Ich mein' ja nur.
Was willst du eigentlich von ihr?
Ich?
War doch dein Vorschlag, sie mitzunehmen.
Klar. Irgendwer muss ja auf die Quote achten.
Welche Quote?
Na die Frauenquote. Oder hältst du es mit Typen wie Daddy Dux und Paul Plot wochenlang aus?
Weiß nicht, sagte Tom. Aber warum ausgerechnet Undine?
Die ist kuscheluntauglich.
Wie?
Na die ist tough.
Und das findest du gut?
Irgendwie schon.
Was ist mit Gabi?
Du meinst doch nicht Freddies Schwester?
Doch, genau die.
Sam grinste. Hast du die beiden schon mal zusammen erlebt?
Nee, hab ich nicht.
Das wünsch ich dir auch nicht. Eine Dosis Strychnin ist Nervenbalsam dagegen.
Kein Wunder, dass sie sich nicht vertragen. Gelegentlich könnte ich Freddy schon auch ...
Klar, er nervt. Aber wenigstens bringt er Leben in der Band. Jede vernünftige Band, die wenigstens ein bisschen was auf sich hält, braucht doch ihren Keith Richards, Johnny Rotten, oder Pete Doherty.
Tom grinste: Sandra als Mick Jagger ist aber wohl eher eine Fehlbesetzung.
Wie auch immer, sagte Sam. Schaff' Undine bei.
Doch dann war es Sam, der Undine traf und zwar am Ort gemeinsamer Qualen. Hatten sie nicht alle geschworen, die Stromberg-Schule nie mehr zu betreten? Und nun waren sie gerade mal einige wenige Wochen mit dem Abi fertig und schon irrten sie wieder durch diese finsteren Gänge. Wie die Bad Guys and Bad Girls, die man zum Strafappell herbeizitiert hat. Nun ja. Es war kein wirklicher Rückfall, auch kein wirklicher Bruch ihrer Schwüre. Es handelte sich um schulische Nachwehen: Bescheinigungen für dies und das.
Aber irgendwie komisch: Sam und Undine. Eigentlich gab es dazu nichts zu sagen. Außer, dass sie in der gleichen Klasse gewesen waren. Außer, dass sie sechs Jahre die Lehrer geteilt und unter denselben schulischen Repressalien gelitten hatten. Außer, dass sie einander schlichtweg ignoriert hatten. Er fand sie tough, aber reichlich versnobt. Sie fand ihn läppisch und irgendwie kindisch. Allein schon das Skateboard. Dann diese blödsinnigen weiten Jeans mit den Gesäßtaschen bis zu den Kniekehlen. Und dann der Tick mit der Kapuze. Selbst im Hochsommer! Sicher, er spielte in Toms Band. Und ja, er war ein musikalisches Genie. Aber war er eigentlich nett? Musste man ihn beachten? Und nun stürzte er aus dem Lehrerzimmer und lief ihr direkt in die Arme.
Sorry!
Keine Augen im Kopf?
Samuel, oder Sam wie er inoffiziell hieß - der Unnahbare, der Witzbold, der Typ mit dem ewigen Glitzern in den Augen. Restless legs, restless brain und restless auch der Rest. Aufgewachsen bei seiner Großmutter, einer Hippie-Pipi-Flower-Power-Tussi, 68-er-Veteranin, Bachblütengläubige, Dritte-Welt-Laden-Tante. Aber Sam liebte sie. Sie hatte ihm alles gegeben und ihn im übrigen machen lassen, was er wollte. Alleinerziehend, dann plötzlich mit Udo. Nur das nahm Sam ihr übel. Zwar waren seine Zähne nun in einem tadellosen Zustand, aber die erzieherischen Hinterhältigkeiten von Udo saßen. Wenn Sam etwas ausgefressen hatte, stellte Udo ganz unverblümt in Aussicht, er müsse mal wieder seine Zähne kontrollieren. Klar, Udo war Zahnarzt.
Hi Undine, sagte er.
Undine lachte.
Das war ungeheuerlich.
Es war das erste Mal, dass sie Sam ihr Lachen schenkte.
Sam hörte all das Gelächter, Gegigger und Gequitsche der vergangenen Jahre. Den Quatsch in den Pausen, das Kichern auf den Klassenfahrten und die Nuscheleien zwischendurch. Nie hatte sie ihn auch nur beachtet. Und nun? Hinweg das ätheri­sche Geschöpf der Klassen 9-13. Vor ihm stand eine bauchnabelfreie Göttin, eine in Cowboystiefel und Pants gegossene Madonna, ein maneater der besonderen Sorte. Nur: sie schien ihn gar nicht fressen zu wollen. Denn sie lachte noch immer.
Ja ja, sagte sie lächelnd. Einmal Streber, immer Streber.
Oh Undine, lästernde Göre, gnadenlose Diva. Doch so war sie. Rothaarig, vornehm blass und angriffslustig. In ih­rer Clique galt es als geil, es den Boys zu zeigen. Gelegentlich tat sie das immer noch. Insbesondere, wenn es eng wurde. Und die plötzliche Nähe zu Samuel machte es ziemlich eng.
Doch sie hatte eine Kleinigkeit übersehen. Sie befand sich ebenfalls im Schulgebäu­de.
Ja ja, erwiderte Sam. Die Liebe zum Deutschlehrer währet ewiglich.
Und so ging es weiter. Ohne es zu merken, gelangten sie nach draußen, schlenderten durch einige Nebenstrassen und fanden sich im Café Atlantis wieder.
Die richtige Frage wäre nun gewesen: was machen wir eigentlich hier zusammen?
Doch niemand stellte sie. Sie sprachen über Musik, die Zukunft und das Projekt der Band.
Nach zwei Wochen spätestens könnt ihr euch nicht mehr ausstehen, prognostizierte Undine.
Wir können uns jetzt schon nicht ausstehen, erwiderte Sam.
Witzbold. Was glaubst du wird Tom tun, wenn Sandra und Tini vor seinen Augen herumknutschen?
Keine Ahnung. Ich dachte emotionale Tiefschläge wären gut für die poetische Power. Schließlich ist er Songwriter.
Und Freddy. Entweder er kifft, oder er nervt oder beides.
Touché, meinte Sam. Aber du übertreibst.
Und was ist mit dir? Mit Skateboarden ist auch nichts auf der grünen Wiese.
Undine hatte schon recht, auch wenn die Reduktion seiner Person aufs Skaten nicht wirklich gerecht war. Das Ganze hatte zahlreiche Hacken.
Mit mir ist soweit alles in Ordnung. Vorausgesetzt du kommst mit.
Was war das?
Hatte sie sich verhört?
Nein, das wohl kaum. Sam grinste sie frech an und hob die Augenbrauen.
Klingt interessant, sagte sie. Aber was soll ich denn da?
Und nun begann Sam seine Trümpfe auszuspielen. Erzählte vom Videoclip, ihrem geplanten Auftritt im Styx und dass sie noch jemand bräuchten, der das Drehbuch schrieb und der cuttete.
Undine sah ihn ungläubig an. Du meinst mich?
Du hast doch diese durchgeknallte Geschichte geschrieben, über diese Schauspielerin in einer Galerie. Wie hieß das noch gleich?
Sie lachte auf: «Hannas Untergang»
Richtig. Da geht es doch um ein Filmset, um Kameraeinstellungen, Beleuchtung etc.
Ja, schon.
Na also.
Undine war sich unschlüssig: ja, schon.
Dux macht die Aufnahmen, du die Texte.
Ich bin nicht unbedingt ein Fan von Daddy Dux, sagte Undine. Zuviel Rappergestik.
Ich sehe sonst niemanden, meinte Sam, der das benötige Equipment hat und die nötige Zeit und Ausdauer.
Ja, Daddy Dux war ein Terrier. Hatte er sich in eine Sache erstmal verbissen, ließ er so schnell nicht mehr davon ab. Vielleicht, dachte Undine, ist auch Sam von dieser Kate­gorie und er begann, sich in sie zu verbeißen.
Aber aus uns beiden wird wohl eher nichts, sagte sie nun und rührte Milch in ihren Kaffee.
Sam schluckte. Ist das ein JA?
Sie legte den Löffel auf den Tisch. Ja, das ist ein Ja.
Geil, fand er.
Mal sehen, sagte sie. Die Idee mit dem Videoclip ist jedenfalls ganz nett.
Eine halbe Stunde später waren sie schon fast im Kino. Sie sprachen über zeitlose Filme und aktuelle Streifen, über mega-coole Schauspielerinnen, geile Schauspieler und fähige Regisseure.

Kapitel 5: Klar Daddy, wissen wir

Ihr wollt WAS? murrte Daddy Dux. Er saß in seiner Karre, Tür weit offen, ein Bein nach draußen gestreckt. Sam sah sich im Spiegel von Daddies Sonnenbrille: ein winziges Figürchen, so eine Art Fliegendreck.
Sam legte die Hand auf die Autotür und beugte sich zu Dux hinab. Wir verziehen uns aufs Land. Bringen die Band auf Vordermann. Genießen den Sommer.
Dux wischte auf dem Touch Screen herum. Welchen Sommer?
Ja, meinte Sam. Ist doch eh zu heiß in der City. Der ganze Qualm hier, dieser elende Krach. Das schafft einen bloß.
Also ich brauch das, meinte Daddy und scrollte und wischte.
Klar, Daddy. Wissen wir. Aber auf Krach brauchst du nicht verzichten. Wir werden heftig proben.
Usher erklang: You Make Me Wanna. Hey Mann, erklärte Dux. Du weißt, dass ich auf euren Sound nicht besonders stehe.
Klar, Daddy. Wissen wir. Aber deswegen nehmen wir noch ein paar coole Mädels mit.
Daddy zog die Sonnenbrille auf die Nasenspitze und musterte Sam. Ich mag dich, Sam. Du bist'n Skater und weißt, wie man sich in der Halfpipe benimmt. Aber von Frauen hast du keine Ahnung.
Klar, Daddy. Weiß ich. Aber Frauen sind ja auch nicht alles, oder?
Dux schob die Sonnenbrille hoch. Was quatscht du denn da, Mann?
Tatsächlich redete Sam Unsinn. Und es machte ihm Spaß. Er fand diese Rappertypen zu abgefahren. Ihre Vorliebe für große Schlitten, vollbusige halbnackte Girls und fundamentale Gesten. Ausserdem konnte man Daddy Dux nichts direkt fragen. Es gab Rituale. Daddy musste Gelegenheit bekommen, sich auszulassen.
Hast recht, Daddy, sagte er. Ich mein ja nur.
Versteh schon, sagte Daddy.
Sam trommelte im Rap von Usher aufs Autodach. Vielleicht drehen wir einen Streifen über die Band.
Mann, was für'n Streifen denn?
Na ja, du weißt schon. Einen Videoclip.
Wie, einen Videoclip?
Glaubst du, wir proben nur zum Spaß?
Daddy wischte wieder und Usher verstummte.
Mann, Sam. Drück dich mal etwas breiter aus. Wir sind nicht alle so Hirnspezialisten wie du.
Bald hatte er Daddy soweit. Schau mal, Daddy. Wir wollen im Styx auftreten. Spätestens im Herbst. Wäre es da nicht angebracht, ein bisschen Werbung zu betreiben, von Zeit zu Zeit was streamen, einge coole Videos produzieren?
Das Wörtchen »angebracht« lag exakt auf Daddies Wellenlänge. Nachrichten auf dieser Frequenz konnte er klar und deutlich empfangen. Er richtete sich auf und wuchtete sich aus dem Wagen: Klar wär' das angebracht.
Das mein ich doch auch, sagte Sam und machte Platz. Daddy war nicht gerade ein Fliegengewicht.
Daddy zog sich die Sonnenbrille von der Nase und hielt sie am Bügel fest. Daddy war bald soweit, das spürte Sam. Das Gespräch war jetzt schon breiig genug, es zog Fäden - so wie Daddy es liebte.
Muss aber ein Profi sein, meinte Sam.
Wie, ein Profi?
Na ja. Es muss ja was rüberkommen.
Was redest du denn, Mann?
Sam grinste. Ist ganz einfach, Daddy, sagte er. Wir suchen einen Profi für unsere Clips. Er muss das Equipment bereitstellen und Regie führen.
Daddy Dux schob sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase. Mann, Sam, sagte er, wenn du nicht immer so lange um den heißen Brei herumreden würdest. Sag doch gleich, dass ich das Ding für euch drehen soll.
Klar, Daddy, sagte Sam. Ich quatsch' zuviel. Bin halt ein Total-Barbar. Aber manchmal ist das halt schwer angebracht.





Songtitel: Du Total-Barbar

kann ich denn vermeiden
dich so zu durchleiden
weiss, du amüsierst dich
und schon klar, du frustrierst mich
-- 's ist halt sonderbar, wie wahr

ja, ich muss das alles schlucken
mich vor Dir wegducken
muss den Schwanz einklemmen
wie all die anderen Memmen

kannst ruhig grell ausflippen
ziehst ja alle geilen Strippen
willst mich abservieren
kriechend auf allen vieren
-- s ist schon wahr, bin sonderbar

kannst auch ruhig auszurasten
weisst schon zu wessen Lasten
darfst mich auch verhöhnen
hörst mich gerne stöhnen
-- s ist schon wahr, s ist sonnenklar

ja, ich muss das alles schlucken
mich vor Dir wegducken
muss den Schwanz einklemmen
wie all die anderen Memmen

kannst mich derb anpöbeln
dann noch fett vermöbeln
willst mich ganz vernichten
mich gezielt hinrichten
-- du bist halt sonderbar, Du Total-Barbar